(fi) »Das Grunderfordernis der Novelle ist, nach Goethe, die künstlerische Wiedergabe einer ›unerhörten Begebenheit‹. Eine solche Begebenheit ist bei Zweig die Begegnung zweier Schachgenies, von denen das eine eine stumpfe bäuerliche Natur ist, der sich ›die Welt einzig auf die enge Einbahn zwischen Schwarz und Weiß reduziert‹, die ›in einem bloßen Hin und Her, Vor und Zurück von zweiunddreißig Figuren ihre Lebenstriumphe sucht‹ – das andere ein hochorganisierter gebildeter Mensch, für den das kalte Fieber des ›Spiels der Spiele‹ einstmals in der zermürbenden Einsamkeit einer Gestapohaft Lebensrettung gewesen ist.« (Der Tagesspiegel)

Die Erzählung spielt an Bord eines Passagierdampfers von New York nach Buenos Aires. Der Ich-Erzähler, ein österreichischer Emigrant, schildert das Aufeinandertreffen der beiden so unterschiedlichen Naturen. Einerseits der amtierende Schachweltmeister Mirko Czentovic, der in einer Rückblende als »maulfaules, dumpfes, breitstirniges Kind« beschrieben wird – und sich seither nicht wesentlich weiter entwickelt hat. Ausgenommen seine überwältigende, stoische und unbezwingbare Begabung für Schach. Der Ich-Erzähler beschreibt ihn jetzt, als Erwachsenen, als arroganten, abweisenden und primär an Geld interessierten Charakter.

Auf der anderen Seite ›Dr. B.‹, der zunächst nur helfend in die hoffnungslose Schachpartie eines Mr. McConnor gegen Czentovic eingreift, und, als sein überragendes Talent sichtbar ist, von den Anwesenden genötigt wird, tags darauf alleine gegen den Weltmeister zu spielen.

Erst langsam lüftet sich Dr. B.’s Geheimnis: Im Schachspiel ist er Autodidakt, doch nie hatte er Schachfiguren in der Hand, nie ein Schachbrett vor sich liegen. Nein, all seine Partien spielte er bisher im Geiste. Anderntags, an Deck, gelingt es dem Erzähler, mehr über Dr. B. zu erfahren: Im Österreich der 1930er Jahre war er Vermögensverwalter des österreichischen Adels und Klerus gewesen. Nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich 1938 nahmen ihn diese in Einzelhaft, um alle Informationen über den Verbleib des Vermögens aus ihm herauszupressen.

Nach mehrwöchiger völliger Isolation, unterbrochen nur von brutalen Verhören, beginnt sich Dr. B.’s Geisteszustand merklich zu verschlechtern. Um nicht völlig wahnsinnig zu werden, stiehlt er, auf dem Weg zu einem Verhör, aus einer Manteltasche ein ertastetes Buch – zu seiner Ablenkung, wie er hofft. Doch das Buch erweist sich nicht als anregende Literatur, sondern als Schachfibel, ein Repetitorium berühmter Schachpartien.

Mangels anderer Beschäftigung beginnt Dr. B. in seiner Isolation die Partien im Geiste nachzuspielen und auswendig zu lernen. Als er schließlich alle Partien kennt, spielt er eigene Partien gegen sich selbst – und entwickelt dazu regelrecht abgespaltene Persönlichkeiten, die er ›Ich-Schwarz‹ und ›Ich-Weiß‹ nennt. Eine wahnhafte Eigendynamik nimmt ihren Lauf, der Dr. B. schwerlich noch entkommen kann. Kaum hat eine seiner Persönlichkeitshälften eine Partie verloren, fordert die andere vehement Revanche. Den wahnhaften Zustand, in den dies mündet, nennt Dr. B. seine »Schachvergiftung«. Der Zustand verschlimmert sich, B. greift einen Wärter an, erst ein Arzt im Lazarett, der ihn für unzurechnungsfähig diagnostiziert, verhindert eine Rückkehr in die Isolationshaft.

So treten nun die beiden Schachspieler anderntags gegeneinander an, und die meisten Zuseher ahnen nichts davon, in welcher Gefahr Dr. B. schwebt, in den manischen Zustand, den das Schachspiel in ihm auslösen kann, zurückzufallen …

Stefan Zweig selbst war, wie Zeitgenossen berichten, ein eher durchschnittlicher Schachspieler, und zog, zur Schilderung einiger technischer Schachdetails eine damals gängige Schachfibel zu Rate. Doch um Schach geht es auch nur oberflächlich in der Schachnovelle. Das Spiel ist das Medium, das Transportmittel für die tiefere Symbolik des Buches: Hier der ungeschlachte, tumbe und stur wie ein Panzer agierende Czentovic, auf der anderen Seite der sensible, gebildete Dr. B. – die Protagonisten sind Stellvertreter für die damals rivalisierenden Strömungen der Zeit, in denen das Tumbe, der Nationalsozialismus, die Oberhand gewann.

Zum Autor: Stefan Zweig wurde am 18. November 1881 in Wien geboren, und lebte von 1919 bis 1925 in Salzburg. Er studierte Philosophie, Romanistik und Geschichte, und machte sich schon als sehr junger Mann einen Ruf als Übersetzer u.a. Verlaines und Baudelaires. Ab etwa 1900 veröffentlichte er eigene Werke. Zweig wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Autoren während der 1920er und 30er Jahre.

Stefan Zweig emigrierte 1934 nach England und 1940 nach Brasilien, wo er, bedrückt durch die politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa, 1942 Suizid beging. Er hatte sich Zeitlebens als kosmopolitischer Intellektueller, als Europäer und Pazifist verstanden. »Seine Werke verbinden hohe moralische und ethische Ansprüche mit dem Bemühen um den Erhalt der alten geistigen Werte«, schreibt der Brockhaus Literatur.

Die Schachnovelle erschien 1942, kurz vor Stefan Zweigs Tod (am 23. Februar 1942) im brasilianischen Petrópolis.

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