Timothy Leary – Prophet der Tech-Bros?

(gpt/ajf) In den 1960er‑Jahren rief Timothy Leary eine ganze Generation mit dem Satz ›turn on, tune in, drop out‹1 zu einem psychedelischen Aufbruch auf. Ein halbes Jahrhundert später kehren dieselben Moleküle, die damals für Rebellion standen, zurück in den Mainstream – über Universitätslabore, Zulassungsverfahren und Risikokapital. Was einst Gegenkultur war, wird heute von Institutionen umarmt, die früher Psycho‑Drogen bekämpften.

Psychedelika sind ins öffentliche Leben zurückgekehrt – als Werkzeug für Therapie, Kognition und, paradoxerweise, Selbstoptimierung. An der Johns Hopkins University und am Imperial College London haben kontrollierte Studien mit Psilocybin bemerkenswerte Ergebnisse bei therapieresistenter Depression und Traumafolgestörungen gezeigt2. An der Stanford University untersucht man die neuronalen Effekte von LSD‑Mikrodosierungen. Diese Forschung hat nicht nur in der Medizin, sondern auch bei privaten Investoren großes Interesse geweckt. Unternehmen wie Compass Pathways und Atai Life Sciences3 setzen darauf, dass die Zukunft der psychischen Gesundheit in jenen Substanzen liegt, die einst einen kulturellen Alarm auslösten.

Nirgendwo zeigt sich dieser Wandel deutlicher als in der Tech‑Welt. Im Silicon Valley gelten Psychedelika als Instrument für Fokus und Kreativität. Microdosing – das Einnehmen kleinster Mengen LSD oder Psilocybin – wird dort in einem Atemzug mit Intervallfasten, Brain‑Computer‑Interfaces und KI‑Alignment diskutiert, als Teil derselben Vision von Selbstgestaltung. Michael Pollan schreibt in How to Change Your Mind: »If you can change your mind, you can change everything«4 – ein Zukunfts-Mantra, für viele Tech‑Bros und ‑Sistas.

So gehören Psychedelika heute nicht mehr zur Aussteigerkultur, sondern zu einer Ideologie der Verbesserung – im selben Vorstellungsraum wie neuronale Implantate, Langlebigkeitsforschung und Transhumanismus: Was Timothy Leary einst als Ausweg aus dem System propagierte, scheint im 21. Jahrhundert vom System absorbiert zu werden.

(ajf) Um diese heutige Entwicklung einzuordnen, lohnt sich ein Blick zurück zu jenem Buch, in dem Leary seine radikalsten Gedanken formulierte. The Politics of Ecstasy (dt.: »Politik der Ekstase«), 1968 erstmals veröffentlicht, ist ein einflussreiches Werk, das den kulturellen, spirituellen und politischen Zeitgeist der 1960er‑Gegenkultur einfängt. In Essays und Vorträgen beschreibt Leary das transformative Potenzial psychedelischer Substanzen wie LSD als Werkzeuge für persönliches Wachstum, gesellschaftliche Erneuerung und spirituelle Erleuchtung.

Leary argumentiert, dass Psychedelika als Katalysatoren für erweitertes Bewusstsein und Selbstfindung dienen. Sie ermöglichen, den Geist »neu zu programmieren«, gesellschaftliche Zwänge zu überwinden und höhere Bewusstseinsebenen zu erreichen. Psychedelika sollten nicht als Drogen, sondern als psychologische und spirituelle Werkzeuge gesehen werden.

Mit »turn on, tune in, drop out« formuliert Leary ein Mantra der Gegenkultur: Introspektive Öffnung (turn on), Harmonie mit der Welt (tune in) und Ablehnung gesellschaftlicher Konformität (drop out). Learys Ideen entspringen seiner psychologischen Ausbildung und seiner experimentellen Arbeit an der Harvard‑Universität, Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Richard Alpert (Ram Dass) sowie Denkern der Beat‑ und Hippiebewegung.

Das Buch festigte Learys Rolle als zentrale Figur der Gegenkultur. Es trug zur Erforschung veränderter Bewusstseinszustände bei und thematisierte die psychedelische Erfahrung als politischen Widerstand und persönliche Befreiung. Trotz des Vorwurfs, Drogenmissbrauch zu fördern, bleibt »The Politics of Ecstasy« ein bedeutendes Zeugnis der 1960er Jahre. Heute inspiriert es die psychedelische Renaissance, die Learys Vermächtnis in Therapie und Spiritualität neu bewertet.

Timothy Leary (1920–1996) war ein US‑amerikanischer Psychologe, Autor und Ikone der 1960er‑Gegenkultur, der die Hippiebewegung entscheidend mit prägte. Seine Ansichten sind und waren hochkontrovers, seine Konfrontationen mit der Justiz notorisch. Doch er war und ist eine einflussreiche Figur, die Wissenschaft, Spiritualität und Rebellion miteinander verband.

Aus dem Buch:
Timothy Leary: Politik der Ekstase: Die wichtigsten grundlegenden Texte zum Verständnis der psychedelischen Drogen und der psychedelischen Bewegung.
Co-Herausgeber: ajf
ISBN-13: ‎ 978-9464858167 | 2025, ePubli


1. »turn on, tune in, drop out« – Learys berühmter Slogan von 1967, wörtlich: »einschalten, einstimmen, aussteigen«. Gemeint ist die bewusste Öffnung für psychedelische Erfahrung, die innere Ausrichtung auf sich selbst und die bewusste Abkehr von gesellschaftlicher Konformität. ↩︎

2. Johns Hopkins University / Imperial College London (2016–2022): Mehrere klinische Studien zu Psilocybin bei therapieresistenter Depression, Angststörungen und Suchterkrankungen (u. a. Carhart‑Harris et al., Lancet Psychiatry, 2016; Davis et al., JAMA Psychiatry, 2021). ↩︎

3. Compass Pathways / Atai Life Sciences: Zwei börsennotierte Unternehmen, die auf die Entwicklung psychedelischer Therapien spezialisiert sind. Compass Pathways (gegründet 2016 in London) führte 2021 eine Phase‑IIb‑Studie mit synthetischem Psilocybin durch. Atai Life Sciences (2018 in Berlin gegründet, heute US‑basiert) finanziert mehrere Start‑ups im Bereich Psychedelika und neuronale Gesundheit. ↩︎

4. Michael Pollan, How to Change Your Mind (2018): »If you can change your mind, you can change everything.« – Ein Zitat, das in der Tech‑Szene häufig im Kontext von Microdosing und Selbstoptimierung verwendet wird. ↩︎