Das verdrängte System systematischer sexueller Ausbeutung junger Mädchen in den Sklavenstaaten der USA
(ajf) Das Buch ›Ereignisse im Leben eines Sklavenmädchens‹ [Incidents in the Life of a Slave Girl, 1861] von Harriet Jacobs beleuchtet einen bis heute weitgehend ignorierten Aspekt der Sklaverei in den USA: die systematische sexuelle Ausbeutung junger Mädchen, die ab der Pubertät – oder auch früher – zum Zielobjekt ihrer ›Besitzer‹ wurden. Die Beiläufigkeit, mit der Harriet Jacobs von diesen Dingen berichtet, spricht dafür, wie enorm verbreitet es war, dass ›Master‹ mit ihren hübschesten Sklavinnen Kinder zeugten. Da das Rechtsprinzip galt, dass die Kinder dem ›Stand der Mutter‹ folgen, waren diese Nachkommen ebenfalls Sklaven, die der Vater und ›Besitzer‹ jederzeit völlig legal verkaufen konnte. Wenn er wollte, behielt er sich aber auch eine Tochter zurück und konnte diese – Jahre später – ebenfalls wieder zu seiner Geliebten machen. Ein gesetzlich legitimierter Kreislauf des Horrors.
Daneben beschreibt das Buch auch fast idyllische Szenen im Leben der jungen Linda1: das gemütliche Heim der Großmutter, einer befreiten Sklavin; die gelegentliche Zuwendung und Sympathie einer netten Herrin; das Ansehen innerhalb der Kirchengemeinde; der Zusammenhalt der schwarzen Gemeinde. Gerade der Gegensatz zum oben beschriebenen sexuellen Missbrauch macht das Buch so schockierend.
Beizeiten fast normales, gemütliches Familienleben und die alltägliche Tortur sexueller Übergriffe lebten Tür an Tür. Es ist die Banalität des Bösen, die hier tagtäglich in Erscheinung tritt. Was geschieht, sind in dieser Zeit an diesem Ort keine Verbrechen, keine Skandale, nicht einmal etwas Schockierendes. Nein, es ist die blanke Normalität.
Harriet Jacobs schildert den körperlichen sexuellen Missbrauch nie explizit, sondern beschreibt in Worten die Folgen der physischen und psychischen Dauerbelastung, unter der sie stand. Schließlich kann sie sich vor ihrem ›Master‹ nur noch dadurch retten, dass sie von einem anderen Weißen, der sie zumindest gut behandelt, schwanger wird. Dieser Mann kann sie nicht heiraten, selbst wenn er das gewollt hätte. Dazu hätte es der Zustimmung des Besitzers bedurft. Und Linda, die noch Sechzehnjährige, gibt sich selbst die Schuld, weil sie schließlich – um sich zu retten – ›unkeusch‹ gewesen war und unverheiratet schwanger wurde. All das: Konstellationen, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. – Der systematische sexuelle Missbrauch junger Mädchen ist ein Aspekt der Südstaaten-Sklaverei, der bis heute nicht aufgearbeitet ist.
Harriet A. Jacobs (der zweite Vorname ›Ann‹ ist nicht belegt, wird nur vermutet) wurde 1813 oder 18152 in Edenton, North Carolina, als Sklavin geboren. Nach dem Tod ihrer ersten Herrin wird sie im Alter von etwa 12 Jahren an Dr. James Norcom und dessen Familie übergeben, der schon bald beginnt, sie sexuell zu belästigen. Nach Jahren psychischer Qual und körperlicher Übergriffe versteckt sie sich fast sieben Jahre lang in einem winzigen Raum auf dem Dachboden ihrer Großmutter. 1842 gelingt ihr die Flucht nach New York, wo sie zumeist unbehelligt lebte – jedoch in ständiger Furcht vor den Sklavenjägern aus dem Süden. Denn der bloße Aufenthalt in den Nordstaaten beendete rechtlich das ›Besitzverhältnis‹ der Sklavenhalter nicht.
Jacobs fand Arbeit als Kindermädchen u. a. bei der Familie des damals populären Schriftstellers N. P. Willis und kam dadurch in Kontakt zu Netzwerken der Gegner der Sklaverei. Auf Anraten ihrer Freundin Amy Post schrieb Harriet ihre Erlebnisse auf. 1861 wurde – nachdem zunächst mehrere Verlage abgelehnt hatten – unter dem Pseudonym ›Linda Brent‹ die Autobiografie Incidents in the Life of a Slave Girl publiziert. Es ist das erste Werk, das die brutalen Realitäten der Sklaverei aus der Perspektive einer Frau schildert.
Das Buch wurde zum Teil empört rezipiert, und bald kamen Anschuldigungen der Fälschung auf: Eine Sklavin sei wohl kaum in der Lage, so einen elaborierten Text zu schreiben. Dies führte sogar zu einer Anhörung vor Politikern, bei der Jacobs durch ihre authentische Schilderung und ihr überzeugendes Auftreten alle Zweifel ausräumte. Sie erlangte Bekanntheit, engagierte sich aktiv in der Abolitionistenbewegung3 und arbeitete mit prominenten Aktivisten wie Frederick Douglass zusammen. Jacobs starb 1897 im Alter von 84 Jahren in Washington, D. C., und hinterließ ein bleibendes Vermächtnis als starke Stimme im Kampf gegen die Sklaverei und für die Rechte der Frauen. Incidents in the Life of a Slave Girl gilt heute als ›amerikanischer Klassiker‹.
© A. J. Fischer, 2024
Aus dem Buch: Ereignisse im Leben eines Sklavenmädchens: Das verdrängte System sexueller Ausbeutung in den Sklavenstaaten der USA
amazon kdp, 2024
ISBN-13: 979-8332728426
1 Harriet Jacobs veröffentlichte ihre Memoiren unter dem Pseudonym Linda Brent. Ebenso veränderte sie die Namen ihrer Familienmitglieder und zahlreicher anderer Beteiligter. ↩
2 Harriets Biografin Jean Fagan Yellin nennt 1813 als Geburtsjahr; Tag und Monat unbekannt. Auf dem Grabstein ist der 11. Februar 1815 angegeben. Mary Maillard, 2017 Herausgeberin der Briefe von Jacobs Tochter, hält das Geburtsjahr 1815 für das wahrscheinlichere. ↩
3 Abolitionismus (von lateinisch abolitio ›Abschaffung‹, ›Aufhebung‹) bezeichnet eine aus aufklärerischen wie christlichen Überzeugungen gespeiste internationale Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert. ↩