Marighellas Stadtguerilla-Manifest — Das Buch, das die RAF prägte

(ajf) Das ›Minimanual do Guerrilheiro Urbano‹1 ist das bedeutendste Handbuch für Untergrundkämpfer; verfasst wurde es von Carlos Marighella (1911–1969), einem brasilianischen Politiker, Schriftsteller und Guerillakämpfer gegen die brasilianische Militärdiktatur. Das Buch enthält detaillierte Anweisungen zur Organisation von Guerilla-Aktionen in urbanen Gebieten, einschließlich Grundlagen der Logistik (u. a. Waffen, Motorisierung), Taktiken zur Sabotage, zu Entführungen und Anschlägen, Propaganda und Indoktrination und vielem mehr.

Carlos Marighella war ein wichtiger Aktivist gegen die Diktatur des Militärs in Brasilien, die von 1964 bis 1985 andauerte. Er gründete die ›Nationale Befreiungsaktion‹ (ALN), eine kommunistische Guerillabewegung, die gegen die repressive Regierung kämpfte und dabei Anhänger aus allen Schichten der brasilianischen Gesellschaft gewann. Marighella wurde im November 1969 in São Paulo in einem heftigen Feuergefecht von der Polizei erschossen, nachdem sein Aufenthaltsort verraten worden war.

Das ›Minimanual do Guerrilheiro Urbano‹ hatte großen Einfluss auf revolutionäre Bewegungen nicht nur in Brasilien, sondern weltweit, insbesondere auch auf die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland. Viele Kampftaktiken und Situationen, die der Autor schildert, finden sich geradezu lehrbuchhaft in den Aktionen der RAF wieder. Darum lohnt es sich für jeden, der die legendäre deutsche Terrorgruppe besser verstehen will, Marighella zu lesen.

Nebenbei verlieh die revolutionäre Schrift der kriminellen Ader eines Andreas Baader sozusagen höhere Weihen, denn Carlos Marighella kämpfte in Brasilien tatsächlich für eine gute Sache, gegen eine brutale Diktatur2. Gudrun Ensslin, der intellektuelle Kopf der RAF, bläute jedem Mitglied der Gruppe ein, Marighellas Schrift zu verinnerlichen und bestand in missionarischem Eifer auf wortwörtliche Umsetzung der Terror-Fibel. Einer der Grundsätze: Bei Kontakt mit dem Gegner – schieße zuerst! Bei Marighella im Abschnitt ›Das Schießen: Die Existenzbasis‹ (vgl. Seite 20): »Will er nicht selbst getötet werden, so muss der Stadtguerillero als erster schießen, ohne das Ziel zu verfehlen.«

Die brasilianische Nationale Befreiungsaktion (ALN) endete in den späten 1970er-Jahren mit der Niederlage der Guerillabewegung und der Verhaftung, dem Tod oder der Flucht ihrer Mitglieder nach massiver Verfolgung durch das Regime. – Die brasilianische Diktatur fand ihr Ende erst 1985 mit der Wahl von Tancredo Neves, einem oppositionellen Politiker, der von einer breiten Koalition verschiedener politischer Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlicher Gruppen unterstützt wurde.3

Aus dem Buch: Handbuch der Stadtguerilla, 2023
Co-Autor der Neuauflage: ajf
ISBN-13: ‎ 978-3752894615 | BoD – Books on Demand


1. Das Original des ›Mini-Handbuchs des Stadtguerilleros‹ ist in portugiesischer Sprache verfasst. ↩︎

2. Die brasilianische Diktatur ging mit vielen Menschenrechtsverletzungen einher, einschließlich Folter, Verschleppung und außergerichtlichen Hinrichtungen politischer Gegner. In den Jahren nach dem Ende der Diktatur unternahm man Versuche, mit den Verbrechen der Militärregierung umzugehen und eine Aussöhnung in der Gesellschaft zu erreichen; so wurde erst 2014 eine ›Wahrheitskommission‹ gegründet. ↩︎

3. Die Demokratisierung Brasiliens war ein schrittweiser Prozess, der in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren begann. 1979 erließ die Militärregierung ein Amnestiegesetz, das politischen Gefangenen und Exilanten die Rückkehr nach Brasilien ermöglichte. 1984 fanden in Brasilien freie Wahlen statt, bei denen mit Tancredo Neves ein ziviler Präsident gewählt wurde – erstmals seit 1964. ↩︎