Genie und Wahnsinn: Der Unabomber

(ajf) Der »Unabomber«, mit bürgerlichem Namen Theodore John (›Ted‹) Kaczynski, war ein amerikanischer inländischer Terrorist, der eine sich über 17 Jahre hinziehende Bombenanschlags-Serie gegen Personen im Technologie- und Wissenschaftssektor führte.
Kaczynski wurde am 22. Mai 1942 in Chicago geboren und zeigte schon in jungen Jahren außergewöhnliche Intelligenz. Er schloss sein Studium an der Harvard University ab und erwarb anschließend einen Doktortitel in Mathematik an der University of Michigan. 1971 beendete er abrupt seine vielversprechende akademische Karriere und zog sich in eine abgelegene Hütte in Montana zurück. Von 1978 bis 1995 nahm Kaczynski Universitäten, Fluggesellschaften und Einzelpersonen im Technologiebereich ins Visier (»Unabomber« steht für »Universitäts- und Airline-Bomber«) und schickte Sprengkörper an seine Opfer. Er fertigte die Bomben sorgfältig aus gängigen Materialien und tarnte sie als harmlose Päckchen oder Briefe. Bei den 16 bekannt gewordenen Anschlägen wurden mindestens drei Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt. Die Attacken lösten in den Vereinigten Staaten phasenweise Angst und Panik aus.

In seinem berühmten Manifest »Die Industriegesellschaft und ihre Zukunft« auch bekannt als »Unabomber-Manifest« legt Kaczynski seine Motive dar und prangert argumentativ schlüssig die verheerenden Auswirkungen moderner Technologie auf die Menschheit an. Dabei spricht er visionär Themen an, die heute im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, von Gentechnologie und Künstlicher Intelligenz bis hin zu ›Selbstwirksamkeit‹ und Political Correctness. Kaczynski glaubte, dass die Abhängigkeit der modernen Gesellschaft von Technologie und Industrie mit Umweltzerstörung und dem Verlust der individuellen Freiheit untrennbar einhergehe und die Menschheit nur durch eine ›echte‹ Revolution davor zu bewahren sei.
Über Jahre hinweg betrieb das FBI die bis dahin am größten angelegte und teuerste Täterfahndung. 1995 erkannte Kaczynskis Schwägerin Elemente des Manifests in Teds Briefen und seiner Artikulationsweise, woraufhin ihr Ehemann – Teds Bruder – die Behörden informierte, was zur Verhaftung des ›Unabombers« führte. Im Jahr 1998 bekannte er sich in mehreren Bundesanklagen schuldig und wurde zu lebenslanger Haft ohne Bewährungsmöglichkeit verurteilt. Am 10. Juni 2023 fand man den im Endstadium an Krebs leidenden Kaczynski leblos und nicht ansprechbar in seiner Zelle. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht und starb – vermutet wird Suizid – noch am selben Tag im Alter von 81 Jahren.
Das Manifest argumentiert, dass technologischer Fortschritt und Industrialisierung zur Entmenschlichung des Einzelnen, zur Erosion persönlicher Freiheiten und zur Zerstörung der natürlichen Umwelt geführt haben. Die zunehmende Abhängigkeit der Gesellschaft von Technologie habe ein sich selbst verstärkendes System geschaffen, das Effizienz und Kontrolle über das Wohlbefinden und die Selbstbestimmung des Individuums stellt. Freiheit, Kreativität und Erfüllung des Einzelnen seien gefährdet.
Das Besondere am Unabomber-Manifest ist, dass es in brillanter wissenschaftlicher Stringenz (und mit Quellenangaben und Fußnoten) die Probleme und deren Ursachen aufzeigt und Analysen trifft, die kaum abzustreiten sind. Die Sprache ist klar, die Schlussfolgerungen sind weitsichtig. Der Text hat eine Qualität und analytische Schärfe, die nicht hinter Texten von Bertrand Russell, Hannah Arendt oder Sigmund Freud zurücksteht, um einige Beispiele zu nennen. Soziologen und Politikwissenschaftler haben dies anerkannt, selbstverständlich ohne Kaczynskis Methoden gutzuheißen.
Dem Unabomber gelang es, sein Manifest bekannt zu machen, indem er zusagte, seine Bombenkampagne zu stoppen, wenn die Medien es vollständig veröffentlichen würden. 1995 schickte er es an die New York Times und die Washington Post. Bei Zurückweisung seiner Forderung würde die Bombenserie fortgesetzt. Die Medienunternehmen standen vor einer schwierigen Entscheidung, beschlossen dann letztlich den Abdruck: Am 19. September 1995 veröffentlichten Washington Post und New York Times zeitgleich das 35.000 Wörter umfassende Manifest mit dem Titel »Industrial Society and Its Future«. Es war der Versuch des Unabombers, seine Überzeugungen mit einem breiteren Publikum zu teilen.
Die Entscheidung, das Manifest abzudrucken, war umstritten und löste heftige öffentliche Debatten aus. Während einige empört betonten, man dürfe einem Terroristen keine Plattform bieten, argumentierten andere, es sei notwendig, die Beweggründe hinter den Verbrechen zu verstehen. Schließlich jedoch spielte die Veröffentlichung des Manifests eine bedeutende Rolle bei der Identifizierung des Unabombers (siehe oben).
Kaczynskis Handeln beruhte auf einer Kombination aus extremen Ideologien und dem tiefen Glauben an die Notwendigkeit, sich dem technologischen Fortschritt zu widersetzen. Die Fragen zum Verhältnis von humaner Gesellschaft und Technologie sind bis heute aktuell – mehr denn je mit dem Aufkommen Künstlicher Intelligenz.

Aus dem Buch: Das Unabomber Manifest: Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft, 2023

Herausgeber und Übersetzer: A. J. Fischer
ISBN-13: ‎ 978-9464858167 | Bookmundo Direct