Marighellas Stadtguerilla-Manifest — Das Buch, das die RAF prägte

(ajf) Das ›Minimanual do Guerrilheiro Urbano‹1 ist das bedeutendste Handbuch für Untergrundkämpfer; verfasst wurde es von Carlos Marighella (1911–1969), einem brasilianischen Politiker, Schriftsteller und Guerillakämpfer gegen die brasilianische Militärdiktatur. Das Buch enthält detaillierte Anweisungen zur Organisation von Guerilla-Aktionen in urbanen Gebieten, einschließlich Grundlagen der Logistik (u. a. Waffen, Motorisierung), Taktiken zur Sabotage, zu Entführungen und Anschlägen, Propaganda und Indoktrination und vielem mehr.

Carlos Marighella war ein wichtiger Aktivist gegen die Diktatur des Militärs in Brasilien, die von 1964 bis 1985 andauerte. Er gründete die ›Nationale Befreiungsaktion‹ (ALN), eine kommunistische Guerillabewegung, die gegen die repressive Regierung kämpfte und dabei Anhänger aus allen Schichten der brasilianischen Gesellschaft gewann. Marighella wurde im November 1969 in São Paulo in einem heftigen Feuergefecht von der Polizei erschossen, nachdem sein Aufenthaltsort verraten worden war.

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Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur

»Was gegen die Natur ist, ist (…) ohne Bestand«
Alexander von Humboldt

»Wir brauchen eine angemessene Gleichzeitigkeit,
eine Balance zwischen Strenge und Phantasie«
Gregory Bateson

Natürlich konnten sich Alexander von Humboldt (1769–1859), der große deutsche Naturforscher, und Gregory Bateson (1904–1980), der geniale amerikanische Anthropologe, nie begegnen. Wenn man aber beide kennt, fallen einem erstaunliche Parallelen ein. Beiden war es ein Anliegen, ja ein immanenter Zwang, die Erscheinungen des Lebens nicht isoliert zu betrachten. Keine abgeschlossene Fachwissenschaft zu schaffen, die von anderen Themenfeldern nicht berührt wird. Sondern das genaue Gegenteil: Brücken zu bauen, Verbindungen herzustellen und Parallelen zu ziehen, zwischen scheinbar Getrenntem, und doch zutiefst Verbundenem. Bei Bateson nannte man das später systemisch-kybernetisches Denken. Alexander von Humboldt war der Pionier dieser Arbeitsweise.

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Die Sklaventransporter | Der Transatlantische Dreieckshandel

Fundstück aus dem Archiv
a. j. fischer/mare

Bis weit ins 19. Jahrhundert verschifften europäische Sklavenhändler viele Millionen Schwarze in die Karibik. Dahinter stand Europas Gier nach Zucker

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verzeichnete eine Londoner Firma, die medizinische Gerätschaften vertrieb, eine ungewöhnlich gesteigerte Nachfrage nach einem Instrument mit Namen ›speculum oris‹ (Mundspiegel). Der metallene Spreizer diente Ärzten dazu, bei einem Kinnladenkrampf den Mund des Patienten gewaltsam zu öffnen – eine Brachialtherapie, die nur selten angewendet wurde. Als der Chef des seriösen Londones Handelshauses der Sache auf den Grund ging, stieß er auf einen schmuddeligen Liverpooler Laden, in dessen Schaufenster neben Daumenschrauben, Hand- und Fußfesseln auch der Kinnspreizer lag – sämtlich Ausrüstungsgegenstände für Sklavenschiffe: Gefangenen Schwarzen, die lieber Hungers sterben wollten, als geknechtet und deportiert zu werden, wurde mit dem ›spekulum oris‹ brutal der Mund aufgehebelt, um ihnen Nahrung einzuflößen.

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Das verdrängte System sexueller Ausbeutung in der Südstaaten‑Sklaverei

Das verdrängte System systematischer sexueller Ausbeutung junger Mädchen in den Sklavenstaaten der USA

(ajf) Das Buch ›Ereignisse im Leben eines Sklavenmädchens[Incidents in the Life of a Slave Girl, 1861] von Harriet Jacobs beleuchtet einen bis heute weitgehend ignorierten Aspekt der Sklaverei in den USA: die systematische sexuelle Ausbeutung junger Mädchen, die ab der Pubertät – oder auch früher – zum Zielobjekt ihrer ›Besitzer‹ wurden. Die Beiläufigkeit, mit der Harriet Jacobs von diesen Dingen berichtet, spricht dafür, wie enorm verbreitet es war, dass ›Master‹ mit ihren hübschesten Sklavinnen Kinder zeugten. Da das Rechtsprinzip galt, dass die Kinder dem ›Stand der Mutter‹ folgen, waren diese Nachkommen ebenfalls Sklaven, die der Vater und ›Besitzer‹ jederzeit völlig legal verkaufen konnte. Wenn er wollte, behielt er sich aber auch eine Tochter zurück und konnte diese – Jahre später – ebenfalls wieder zu seiner Geliebten machen. Ein gesetzlich legitimierter Kreislauf des Horrors.

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Sun Tsu: Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft

(ajf) Sun Tsus Werk ›Die Kunst des Krieges‹ ist der Klassiker der Strategie- und Kriegsliteratur. Es ist jedoch mehr als ein Klassiker: Es ist heute noch aktuell, und in vielen Militärakademien rund um die Welt Pflichtlektüre. Schon für Napoleon war Sun Tsu der Schlüssel, um fast ganz Europa zu erobern. Erst als er seine Regeln nicht mehr befolgte, wurde er geschlagen.

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›Psychologie der Massen‹ neu gelesen

(ajf) Gustave Le Bons Buch Psychologie der Massen ist mehr als eine brillante Analyse von Massenphänomenen – es ist eine Warnung davor. Für Le Bon ist die Masse, im Gegensatz zum Individuum, kein ›Kulturerzeuger‹, sondern sie wirkt dunkel und negativ, ist im höchsten Maße manipulierbar, und neigt zu Intoleranz und Verfolgung Andersartiger. In der Masse zeigt sich das Instinktive, das Triebartige und Unbewusste. Die Individualität der Einzelnen tritt zurück, er verliert seine Kritikfähigkeit und verhält sich affektiv, zum Teil primitiv-barbarisch. Eine einheitliche, kaum kontrollierbare und oft gefährliche ›Kollektivseele‹, bildet sich (»loi de l’unité mentale des foules«).

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200 Jahre Frankenstein

(ajf) Der indonesische Vulkan Tambora spuckte nach einem gewaltigen Ausbruch – der größten Vulkan-Eruption seit 20.000 Jahren – Millionen Tonnen Asche in die Atmosphäre und sorgte für das legendäre ›Jahr ohne Sommer‹, 1816 schrieb man. In der Schweiz, in einer Villa am Genfer See, traf sich eine sinistre Runde, die man, je nach Blickwinkel, als dekadente literarische Spinner oder als geniale Vorfahren der Hippies bezeichnen könnte. Im Zentrum der Gruppe: Mary Shelley, die spätere Autorin des Frankenstein.

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Utopia bleibt (vorerst) Utopie

(ajf) Ein König, der erstens seine Triebe nicht unter Kontrolle hat, zweitens krampfhaft versucht, einen männlichen Nachkommen zu zeugen – was ihm vielleicht nur deshalb nicht gelingt, weil er an Syphilis leidet –, drittens eine verknöcherte Kirche, die sich beharrlich weigert, eine Ehe zu scheiden: Das waren die Zutaten, die dazu führten, dass Thomas More (* wahrscheinlich 7. Februar 1478 in London; † 6. Juli 1535 ebenda), einer der brillantesten Denker im England des 15./16. Jahrhunderts, auf dem Schafott landete. – Und dabei noch Glück hatte, nur geköpft zu werden. Nicht gehängt, ausgeweidet und gevierteilt, wie es damals üblich war.[1]

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